22 Januar 2007

von Isabel am 22.1.: jedem (s)ein dunkles Geheimnis?

Kennt ihr das? Je näher der Prüfungstermin kommt, desto lähmender ist es, die Literatur zur Hand zu nehmen, desto größer ist die Überwindung, den Stoff zu vertiefen und zu wiederholen. Das hat gar nichts mit der täglichen Arbeit zu tun, es ginge sich alles aus. Nebenbei. Theoretisch.

Gerade überlege ich, warum ich so einen Hype aus meinen Prüfungen mache. Vll weil sie der einzige Adrenalin-Lieferant in meinem Leben sind? Es gibt sonst keine Höhepunkte. Keine Streitgespräche, keine Widrigkeiten, keine bösen Kollegen oder gar Chefs, keine Beziehungstroubles. Zurzeit hab ich nicht einmal Freunde mit Problemen.
Ich könnt mich also wunderbar auf die Prüfung konzentrieren. Mit der Betonung auf "könnte“.

Also lese ich statt dessen in @sines Blog und war gedanklich schon bei Emerson und Thoreau, bei der wahren Freiheit und denen, die sie leben durften - oder es versuchten - da lese von einem Problem, von dem ich nicht wusste, nicht ahnte, dass es (noch immer) eines für dich ist. Das tut mir sehr Leid und macht mich betroffen. Ich dachte tatsächlich, wenn du das Mutter-Problem nicht erwähnst, es wäre zurzeit nicht akut.

Nun weiß ich ja nicht sooo viel über @sines Mam und kann nur raten und spekulieren, schätzen und von meiner eigenen Mama auf deine schließen. Was das Bild ja verzerrt und relativiert und dennoch hoffe ich, es ist etwas für dich dabei.

Da ich zu deiner Mutter keinen Bezug habe, kann ich allen Ernstes schreiben: Sie tut mir Leid. In meiner Wahrnehmung versucht sie alles, um den Kontakt zu dir aufrecht zu erhalten.
Und da es ihr - aus welchen Gründen auch immer - nicht gelingt, warmherzigen und liebevollen Kontakt zu dir zu pflegen, macht sie es eben in ihrer rechthaberischen Art (?) - aber es ist AUCH eine Art zu zeigen, dass sie dich braucht.
Ja, sie braucht dich, du bist ihr Reibebaum. Ohne die Auseinandersetzung mit dir fehlt in ihrem Leben etwas Elementares.

Das soll nicht heißen, dass du verpflichtet wärst, ihr Spiel mitzuspielen oder dass es in Ordnung wäre, es ist mit Sicherheit das Gegenteil von gesund.
Es soll vielmehr heißen, dass ich glaube, sie ist verzweifelt, weil sie nicht weiß, wie sie dich an sich binden soll.

Sie hat dich nie verstanden, nicht wahr? Sie wusste nie, was in deinem Kopf vorgeht und wie du als nächstes reagieren wirst. Sie konnte dich nie richtig einschätzen, abschätzen, einstufen, du warst ein Leben lang ein Buch mit sieben Siegeln für sie und wenn ihr nicht verwandt wärt, dann wärt ihr euch nie begegnet?
Und: es fehlt ihr die Toleranz, um akzeptieren zu können, dass ihre Tochter nicht ihr Ebenbild geworden ist, sondern völlig konträr. Das ist auch schwer und hier beginnt mein Mitleid.

Sie würde so gern an dir herummanipulieren, damit du "richtig“ wirst - eben so, wie sie es als richtig empfindet und damit hat sie alles nur noch schlimmer gemacht.
Das weiß sie, nicht wahr? Insgeheim weiß sie es und sie würde es niemals zugeben. Aber sie weiß, sie hat versagt in doppelter Hinsicht: einerseits konnte sie dich nicht ihren Wünschen entsprechend konditionieren und andererseits fehlt ihr die menschliche Größe, dich so zu akzeptieren wie du bist und auch noch einen liebevollen Umgang zu dir zu pflegen. Hmm, sie ist arm dran.

Mit Versagensängsten für Zukünftiges umzugehen, ist eine Sache. Sich selbst einzugestehen, wie unfähig man doch WAR ohne dass man es wieder gutmachen könnte, ist das Schwerste. Und es macht nichts besser, wenn man anderen einredet, sie wären noch unfähiger und noch größere Versager. Das weiß sie offenbar nicht, sonst würd sie das nicht andauernd probieren.

*seufz*

Seiner eigenen Mam den Rücken zu kehren, ist mit viel schlechtem Gewissen und Traurigkeit verbunden, das verstehe ich gut.
Ich hab’s nie erzählt, und ich weiß nicht, ob es dir hilft: ich hab seit vielen Jahren keinen Kontakt zu meiner Mutter, obwohl sie nur einen Steinwurf weit von mir entfernt wohnt.

Es war eigentlich nicht meine Entscheidung. Der Umstand brachte es mit sich, dass sie eines Tages nichts mehr mit uns - meiner Schwester und mir - zu tun haben wollte.
Es hatte mit meinem Vater zu tun. Er kam zurück aus Argentinien, wohin er verschwunden war, seinerzeit, und sie sitzen ließ mit drei kleinen Kindern und einer Menge Schulden.

Er kam zurück zum Sterben und er wollte noch einmal seine Familie sehen und sie um Verzeihung bitten. Damit er in Ruhe sterben kann. Das klingt jetzt sehr pathetisch und alle Schnulzenschreiber heimischer Drehbücher würde es bei diesen abgetakelten Sätzen den Magen umdrehen.

Es ist eben so, wie das Leben halt so schreibt.

Weder besuchte ich meinen Vater, noch informierte ich meine Mutter. Ich wollte mich heraushalten, neutral bleiben. Eigentlich ging mich das alles nichts an. Mein Vater war verschwunden, als ich fünf war. Ich hab nur sehr wage Erinnerungen an ihn. Er bedeutet mir nichts.

Meine Schwester war schon älter und hing damals sehr an ihm. Nun besuchte sie ihn täglich im Krankenhaus und wurde zur Sterbebegleiterin. Täglich rief sie mich an, um sich bei mir auszuheulen, wie arm er denn wäre und wie böse ich wäre, weil ich ihn nicht sehen wollte.

Diese Gespräche dauerten jeden Tag oft mehr als eine Stunde und belasteten mich sehr. Und eines Tages … kam die Mama dahinter: dass wir Kontakt hatten, dass wir ihr nichts erzählten, dass er wieder im Land war. Es war ein Riesentheater.
Eine Woche später starb er. Ich ging nicht auf das Begräbnis, ich ignorierte alles. Meine Schwester organisierte es allein und niemand half ihr.

Nun waren alle spinnefeind aufeinander. Ein offenes Wort, ein produktives Gespräch, ein reinigender Streit: so was hat’s bei uns nie gegeben. Lieber Schweigen und böse sein.
Ich dachte mir nach einer Weile, es wäre wieder alles so wie gehabt. Dass der Tod einer doch (mir) völlig unbekannten, wenn auch verwandten Person selbst in einer komplett gestörten Familie noch viel anrichten kann, hätte ich nicht für möglich gehalten.

Sie sprachen nie wieder ein Wort mit mir. Anfangs hatte ich versucht, den Kontakt herzustellen. Eines Tages kam ein Brief von meiner Mama an mich adressiert: sie schrieb mich zunächst an, als wäre ich eine Fremde.
Auf vier Seiten häuften sich Anfeindungen, Anschuldigungen und Vorhaltungen, die jeder Grundlage entbehrten. Dieser Brief war voller unstrukturierter, feindseligster Gedanken, es war so viel Hass spürbar und so viel Wut. Solche Gedanken waren mir eine Leben lang fremd. Und zu Papier hätte ich so etwas ohnehin nie bringen können - und wenn doch, schickt man so etwas? Seiner eigenen Tochter? Soviel zu den Details aus den dunkelsten Ecken meiner Familie: ich vermutete ernsthaft pathologische Gründe für ihre Wortwahl.

Nach anfänglichem Schock kann man ja entsprechend reagieren: man kann Verständnis haben für so viel Wut und Zorn und Verzweiflung oder auch nicht,
man kann einsehen, dass eben ein Ventil notwendig gewesen war und es nicht persönlich nehmen, man könnte Mitleid haben, bestürzt sein, bemüht sein, alles zu erklären, zu relativieren, zu retten und geradezubiegen?

Jetzt hatte ich ja schon unzählige sinn- und ergebnislose Gespräche mit Frau Mama geführt, schon seit der Zeit meiner Pubertät, wenn nicht schon davor, sodass ich wusste, dass alles nichts nützen würde. Also schwieg ich: ganz wie es mir entspricht, mit Ignoranz lebt sich’s leichter.
Oder doch nicht? Es ging mir anfangs sehr schlecht, ich hatte ein schlechtes Gewissen, hatte mich geschämt, gegrämt, bemitleidet, gemaßregelt, so lange bis ich es erkannte:

und ich bin nicht stolz darauf:

Es war eine Befreiung! Zu schweigen und darüber hinwegzusehen, den Kontakt zu meiden und den Brief zu verbrennen, hat mich befreit.
Man muss sich von den Menschen lösen, die einem schaden, es nützt nichts! Sie schaden bestimmt nicht mit Absicht und sie schaden sich selbst viel mehr, aber es ändert nichts an den Tatsachen: wenn man in Ruhe leben möchte, muss man denen, die es nicht zulassen wollen, den Rücken kehren.

Es ist nicht so, dass ich nichts vermisse. Es gibt Momente, das vermisse ich EINE Mutter, aber nicht meine. Es ist keine Kränkung und kein Entzug einer Person, die mir am Herzen liegt oder gar etwas bedeutet. Diese nüchterne Feststellung finde ich selbst sehr schade, weil es auch anders ginge - in der Theorie und in so vielen Lebenslagen.

Aber die Dinge sind nun mal, wie sie sind und nicht alles lässt sich retten. Wenn das Ziel des Weges Gelassenheit sein soll, dann muss man wohl auch den einen oder anderen zurücklassen,

sagt eine Isabel, die vor lauter Prüfungsnervosität alles andere als gelassen ist …

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